Mancher hält die Melodien des Genfer Psalters, mit gewissem Recht, für „mathematisch“ und künstlich. Sie sind „mathematisch“, diese Melodien, von künstlichem Aufbau, und sie erinnern nicht zufällig eher an einen Garten der Renaissance oder des Barock mit seinen geschnittenen Hecken, den geformten Rabatten und künstlichen Teichen, als an einen englischen Landschaftspark oder gar eine urwüchsige Waldung.
Calvin wünschte für die Psalmen einen „chant ecclésiastique“ (Sakralstil), der sich durch „poids et majesté“ (Gewicht und Erhabenheit) von weltlicher Musik absetzen sollte. Die Komponisten Guillaume Franc, Louis Bourgeois oder Pierre Davantès zielten nicht auf die Volkstümlichkeit ihrer Musik. Das Wort Gottes ist der Sinn ihres kompositorischen Aufwandes, und da durfte es wohl angehen, dass die Melodien, die dieses Wort transportierten, ein tönendes Abbild der Ordnung und Strenge Gottes selbst und der Durchwaltung aller Naturkräfte durch den göttlichen Geist geben.
Keine Ausbrüche, keine Sprünge, keine Eruptionen der Leidenschaft, sondern Mass, Gehaltenheit und, noch einmal: Ordnung, sollen uns trösten, wenn wir singen. Denn die Welt ist wild genug, unser eigenes, privates Leben mag wohl auch von Leidenschaften zerrüttet werden, von Hass und Furcht und Eros zumal, aber in Gott finden wir, mitten aus all dem, zur Ruhe.
Gewissen Zeiten, vielleicht gerade sehr zivilisierten, fast schon spießigen Gesellschaften, erscheint das langweilig. In ordentlichen Zeiten sucht man sich unordentliche Vorbilder. Die Adenauer-Ära hat sich nicht zufällig dem Rock’n Roll in die Arme geworfen. Kein Wunder, dass der Genfer Psalter in Deutschland erst in jüngster Zeit wieder Aufmerksamkeit und singende Gemeinden findet. Denn erst in Zeiten, in denen alle Ordnung und, erst Recht, alles Mass längst aufgehoben ist in einer nach allen Seiten unbegrenzten Beliebigkeit und Verwirrung der Begriffe, weiss die Gemeinde Jesu, was sie hat, wenn sie unterschlüpfen kann unter dieses sehr ordentliche Notengewand, wie die Küchlein unter die Flügel einer Henne. „Unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet in dir“ hat Augustin vor mehr als eineinhalb Jahrtausenden geseufzt. Wir machen unser Seufzen zum Singen und stimmen ein in den uralten Lobgesang Israels.